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Ein weißes Blatt

Das Leben ist zu kurz, um nur eine Geschichte zu erzählen. Das wussten schon unsere Vorfahren, wenn sie sich ums Feuer versammelten und die Geschichten, die sie von der Generation vor ihnen gehört hatten, mit zeitgemäßen Details ausschmückten, um sie für die Jungen begreifbar zu machen.

Trotzdem besitzen die alten Geschichten einen unmessbaren Wert, denn sie sind das Sediment, auf dem unsere Gegenwart aufgebaut ist.

Wer das nicht glaubt, kann sich einmal die eigene Familiengeschichte ansehen:

Wimmelt es dort nicht von lebendigen Bildern, von Formeln, die immer wieder neu erzählt und in genau dieser Reihenfolge, meist mit den genau gleichen Einwürfen der Familienmitglieder erzählt werden?

Und hast nicht auch du deine Großeltern oder Eltern oft genug angebettelt, dir noch einmal genau diese eine Geschichte von damals, die mit dieser einen faszinierenden Begebenheit, zu erzählen, in der Art und Weise, wie du sie als richtig empfandest?

Diese Geschichten sind das Herz von Familien.

Manche Generation hält nur noch zusammen, weil es die Geschichten von ihrem Mut und ihrer Tapferkeit darüber gibt.

Die andere Seite der Erinnerungskultur ist, dass sie uns nicht nur eine beständige Basis gibt, auf der wir unser Lebenaufbauen können. Nein.

Leider zwingen uns manche Bilder, die wir mit uns herumtragen, auch dazu, das ewig gleiche zu wiederholen und damit in einem Kreislauf festzustecken, den wir oft nicht einmal begonnen haben.

Die Zeit meines Alleinerziehend-Seins ist so eine Geschichte, die mich lange geprägt und begleitet hat.

Aus der schmerzvollen Zeit habe ich viele Erkenntnisse gewonnen und viel gelernt, etwa, dass ich es alleine schaffe, dass ich auch ohne Partner ein vollwertiger Mensch bin oder dass ich jeden Tag versorgt bin, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.

Die Learnings, die ich aus diesen knapp 15 Jahren gezogen habe, begleiten mich seitdem:

In meiner Beratungsarbeit, in Seminaren und Coachings und sogar in meiner Promotion bearbeite ich die Themen, die am Alleinerziehend-Sein so speziell sind und die kaum jemand nachvollziehen kann, die nicht in der gleichen Lage war.

Da gibt es die erzwungene Dauerpräsenz, in der dir niemand hilft, weil du auf dich gestellt bist. Die Umgangs- und Unterhaltsproblematik, die Zeit ohne gesichertes Einkommen, das ewige Für- und Wider Kinder oder Karriere, Beruf oder Betreuung.

Ich kenne diese Geschichte in – und auswendig und habe sie viele Male erzählt. So oft, dass ich irgendwann dachte, ich BIN die Geschichte:

Ich, Melanie, die Alleinerziehende.

Auch andere begannen, mich nur noch auf diese Rolle zu reduzieren. “Alleinerziehende promovieren nicht!” “Alleinerziehende schreiben keine Bücher!” “Alleinerziehende sind unglücklich, allezeit.”

Je mehr sich die Außenwelt darin übte, mich mit der Geschichte gleichzusetzen, umso enger wurde sie mir.

Zuerst merkte ich es nicht richtig. Dachte, das müsste so sein. Es ist ja auch unglaublich motivierend, wenn die eigenen Erfahrungen dazu beitragen, anderen ein paar Schritte schneller auf ihren Weg zu bringen.

Also erzählte ich die Geschichte wieder und wieder, teilte und lud ein, nicht die gleichen Fehler zu machen wie ich, sondern eben schneller aus meiner Story zu lernen.

Es funktionierte. Das ist das Gute an einer Geschichte, die bis ins Detail erzählt wird- sie kann ein Leuchtturm für andere sein, die das Ende noch nicht kennen.

Dann fühlte ich mit einmal dieses leise Klopfen in mir, das mich verwirrte.

Ist das wirklich alles, fragte eine innere Stimme, die ich unbewusst schon in einigen Blogbeiträgen und unter Freunden erwähnt hatte. Ist das die ganze und einzige Wahrheit für dich?

Heute habe ich der inneren Stimme einmal ganz genau zugehört. Freundlich hatte sie so lange gewartet, bis ich dafür bereit war.

Ich möchte eine neue Geschichte erzählen, sagte sie mir. Eine andere Geschichte, die schon einen Anfang hat, bei der aber noch nicht klar ist, wohin es gehen wird. Eine, die sich noch entwickeln darf.

Bereit, wirklich zuzuhören, lauschte ich noch mehr.

Und dann: Klarheit.

Die alte Geschichte ist noch immer wahr, und ich werde sie weitererzählen. Sie ist ein Teil von mir, der mich ausmacht und den ich gut kenne. Und: Es wird eine neue Geschichte geben. Ich werde sie dir schrittweise erzählen, während ich sie erlebe.

Auf einem weißen Blatt stehen bereits ein paar Worte, die ihr Anfang sind:

  • Arbeiten, um zu schreiben.
  • Aufstehen, um zu schreiben.
  • Lieben, und darüber schreiben.
  • Trost finden im Schreiben.
  • Raum freimachen fürs Schreiben.
  • Mich wieder trauen zu schreiben.
  • Es ganz umarmen, das Schreiben.
  • Meinen Traum wahrmachen, und SCHREIBEN.

Dies ist das neue Kapitel in meinem Buch. Es wird die anderen Kapitel mit verändern, sie zu Sprungbrettern machen, und damit auch für die nächste Generation ein Fundus werden, aus dem sie schöpfen kann.

Auch du kannst dich fragen, ob die Geschichte, die du heute von dir erzählst, die einzige ist.

Noch weiß ich nicht, wie und was und wo und überhaupt. Und es fühlt sich gut an. Ein weißes Blatt, ein paar erste Schritte, und Mut, weiterzugehen.

Ich mag ihn jetzt schon, den neuen Text. Und mich mag ich auch, während ich mich traue, nicht zu wissen, was als nächstes kommt.