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Die Pflicht zum Frieden- Jetzt!

In diesem Artikel geht es um Frieden, aber auch um Krieg, Angst und Trauma. Bitte überlege dir, ob du in der richtigen Verfassung bist, den Artikel zu lesen.

Als die Nachricht vom Beschuss der Ukraine mich erreicht hat, wurde alles seltsam still. Für einen winzigen Moment hörte ich das Blut in meinem Kopf rauschen. Wie durch Milchglas sah ich auf meine Wirklichkeit und erkannte sie nicht mehr. Alles gleich und doch anders. So verdammt nah dran am Krieg.

Ich weiß, das ist kein neuer Krieg, und es steht mir nicht zu, eine Position, eine Seite zu beziehen oder gar einen politischen Kommentar über die Rechtfertigung von Maßnahmen abzugeben. Seit 2014 haben das andere sehr viel besser und informierter getan.

Was mir aber zusteht, ist, mich in diesen Tagen in das aktuelle Geschehen zu verorten, mir einen Platz zuzuweisen und mich selbst, in mitten der Veränderung, anzusehen:

Was ist nun meine Aufgabe? Was kann ich, hier, jetzt tun?

Ich, die Mutter, habe zwei Tage lang geweint. Mein Herz ist stark berührt. Kinder, alte Menschen, Tiere- vor eine neue Wirklichkeit gestellt, in der sie wenig ausrichten können. Und auch die Männer, Soldaten, auf beiden Seiten, führen Befehle aus, hinter denen sie in ihrem wahren Herzen nicht stehen können.

Jeder von ihnen weiß: Mit jedem Vater fällt eine Familie. Mit jeder Mutter stirbt ein Kind.

Im Gespräch mit meinen Kindern wird klar, dass sie nicht (wie gut!) nachvollziehen können, warum mich das so angreift. Für sie ist alles weit weg, ein weiteres Thema, das durch die Medien zieht, morgen vergessen. Ich beneide sie um ihre Unschuld, um ihre Abgrenzungsfähigkeit.

Meine Großmutter hingegen weiß es.

Als ich hinuntergehe und nach ihr sehe, blickt sie durch mich hindurch. Krieg, sagt sie. Das haben wir alles schon erlebt. Gnade uns Gott.

Was habt ihr damals gemacht, frage ich sie, in der Hoffnung, einen Hinweis auf richtiges, angemessenes Verhalten zu bekommen. Nichts, sagt sie. Wir haben weitergemacht.

Im ersten Moment bin ich schockiert. Einfach weiterzumachen, das erscheint angesichts einer so tiefgreifenden Zäsur hilflos, unangemessen. Aber dann führt sie mir ihre damalige Situation vor Augen:

Zwei Eltern, die nicht im Regime der Nazis treu verortet sind. Sechs Kinder, drei davon Jungen, wehrfähig. Armut, ein einziges Gehalt als Arbeiter. Das (Über-) Leben zu schützen und weiter zu machen, die Existenz durch die eigene Tätigkeit in Haushalt und Feld zu sichern, das war das Vernünftigste, was sie hätten tun können. Demonstrieren? Widerstand? Dafür blieb keine Kraft.

Weiterzumachen, das war der Widerstand, den sie sich leisten konnten.

Zurück zu mir, ins Heute. Im Auge der realen Bedrohung ein paar Flugstunden entfernt brauche ich beinahe zwei Tage, um meine Handlungsfähigeit zurück zu erlangen. Das transgenerationale Traum wirkt, jedes Bild ein Trigger.

Geschichten, die ich als Kind bei unzähligen Familienfeiern über den Krieg gehört habe, entwickeln eine Art Eigendynamik. Was, wenn der Krieg nach Deutschland kommt?

Ich frage mich, was ich tun kann, wie ich meine Kinder schützen kann, hier und heute. Hier komme ich gedanklich an eine tiefe Grenze, und ich merke:

Das ist nicht die Frage, um die es hier und heute geht. Heute muss es darum gehen, genau das zu verhindern.

Die Pflicht zum Frieden eilt dem Krieg voraus, und ich bin entschlossen, ihren Ruf zu hören.

Frieden jetzt- ist es dafür nicht zu spät? Nein. Erst recht bleibe ich bei dem, was mich seit meiner Jugend begleitet: Lennon, Adorno, die Hippiekultur- welches Vorbild sich auch immer durch mein Aufwachsen gezogen hat, sie alle haben eines gemeinsam.

Schaffe Frieden in dir, dann heilst du die Welt.

Zynisch, magst du jetzt sagen. Du sprichst aus deinem sicheren Haus heraus, während ein paar Flugstunden weiter Bomben fallen. Sicher– jetzt gerade, ja.

Damit das so bleibt, muss Frieden sein. Kein Krach, kein Kampf, kein Neid. Gier und Mehrhabenwollen sind die Grundlagen auch dieses Krieges, und diese gilt es zu beheben.

Ich sehe als meine Pflicht als Mensch, als Frau in diesem Jahrtausend an, mich diesem Übel zu stellen, und ich fange dabei wieder bei dem Bezugspunkt an, auf den ich Einfluss habe: Bei mir.

Wo bin ich (mit mir selbst) im Krieg? Wo kämpfe ich? Gegen wen?

Die Frage ist schnell beantwortet, schaue ich auf meine persönlichen Beziehungen, auf mein Verhältnis zu meinem Körper, auf meinen Widerstand gegen gewisse Veränderungen, auf meinen Umgang mit Umwelt und Natur.

Obwohl ich schon in einigen Bereichen arbeite, geht da noch mehr. Wie willst du Frieden erlangen, wenn du mit deinem Bruder im Krieg bist?

Das Ego will, und es will es jetzt. Dem gilt es entgegen zu treten. Ich muss mich dazu selbst immer wieder zu hinterfragen, warum ich in einer Situation die Oberhand gewinnen will, warum ich jemanden verändern will, der einfach so ist, warum ich Beziehungen zu meinen Bedingungen führen will, anstatt sie einfach sein zu lassen, wenn keine Verhandlung möglich ist. Und dann muss ich daran arbeiten, dass ich all das auflöse.

Loslassen, in Liebe. Die eigene Position kennen und die anderen freigeben.

Ich habe einen langen Weg vor mir, was meinen eigenen Frieden angeht. Ich erinere mich daran und gehe ihn weiter.

Das ist zu wenig, sagst du vielleicht. Das ist das, was ich heute tun kann, antworte ich.

Ich kann weder die aktuellen Geschehnisse verändern, noch kann ich andere Menschen bitten, es zu tun. Mich selbst habe ich dennoch in der Hand.

Mich selbst kann ich zurückrufen zum Frieden.

Ich kann um Verzeihung bitten und mir Verzeihung gewähren. Ich kann mich ausrichten auf das, was zählt, immer wieder neu. Als Mensch, als Frau, als Mutter ist es meine Pflicht, diesen Weg zu gehen, auch wenn er nicht leicht ist.

Klein ist mein Wirken, aber nicht unbedeutend: Wenn viele von uns etwas tun, spannt sich ein Lichtbogen durch die Menschheit. Dieser Frieden von Herz zu Herz bildet die Grundlage für eine gewaltlose Wirklichkeit, in der wir alle leben können. Wir können heute und jetzt den Boden bereiten für eine Zukunft, in der alle sicher und versorgt sind.

Der Frieden sei mit dir, für alle Zeit.