Rollen in Familien: Der Sündenbock

Wenn es um dysfunktionale Familien geht, kenne ich mich gut aus. Dies ist der erste von mehreren Artikeln, der sich mit typischen Rollen und Mustern in Familien befasst. Da der Sündenbock (m/w/d) gerade kollektiv, nicht nur in der Familie, eine wichtige Funktion übernimmt, beginne ich mit “ihm”: Die Rolle des Sündenbocks kann von allen Personen aller Geschlechter ausgefüllt werden-der guten Lesbarkeit halber entscheide ich mich hier im Artikel für die männliche Form.

Sündenbock. Was ist das eigentlich?

Das Wort entstammt einer biblischen Geschichte: Die Israeliten belegten einen Bock (escape goat) mit den Sünden des ganzen Dorfes und trieben ihn dann in die Wüste. Damit waren alle Bewohner der Gemeinschaft von ihren Sünden befreit. Eine Art Reinwaschung sozusagen, mit religiösem Hintergrund.

Auch heute noch können wir dieses Verhalten beobachten:

Besonders in Familien, in denen ungesunde Machtdynamiken herrschen, werden Personen von der Gemeinschaft auserwählt, die eine ähnliche Rolle erfüllen wie das biblische Tier.

Sie werden für die Probleme und Schwierigkeiten der Gesamtfamilie zur Rate gezogen und mit den Merkmalen der Rolle unfreiwillig belegt. Und auch auf Gesellschaftsebene findet sich immer wieder eine neue „Sau“, die „durchs Dorf getrieben wird- und „schuld“ ist.

Was bringt es?

Indem die Zuweisenden eine Person als generalschuldig benennen, können sie ihren eigenen Anteil an Problemen von sich weisen und damit ihren Teil der abgeben Verantwortung.

Langfristig bringt das für sie einige Vorteile:

Erstens müssen sie sich nicht mit den eigenen Schattenthemen befassen, zweitens bleiben Tabuthemen so gut in der Familie versteckt und drittens ist es einfach ungemein bequem, jemanden zu haben, der die Generalschuld für alles übernimmt.

Das Sündenbockprinzip wird meist von früher Kindheit subliminal, d.h. versteckt, angewendet.

Da Kinder ihre Umwelt nicht in Frage stellen können, da sie auf ihre Bezugspersonen im Sinne des Überlebens angewiesen sind, entzieht sich der Vorgang meist dem Bewusstsein der auserwählten Person. Versteckt wird beschämt, kritisiert und geleugnet- der Schuldige ist schnell gefunden, eine normative Rahmung wird nicht gesucht. Bedeutet: Dinge, die in der Sache begründet sind oder in den Verantwortungsbereich eines Erwachsenen gehören, werden dem Kind zugeschoben:

„Hättest du dich im Ferienlager richtig geduscht, hätten wir jetzt schick essen gehen können. Aber nein, jetzt müssen wir nach Hause fahren, der ganze Sonntag ist ruiniert!“ – Mein Vater, beim Abholen aus dem 14-tägigen Zeltlager im Hunsrück, als ich 7 Jahre alt war.

Mit der Zeit etabliert sich eine gewisse Routine: Der Sündenbock wird offen oder verdeckt für eine Reihe von Problemen verantwortlich gemacht. Hierfür wird alles herangezogen, was möglich ist: Schlechte Noten, ein verpatzter Schulauftritt, der Wechsel des Studienfachs, falsche Partner:innenwahl, besondere Hobbies, der Wunsch sich politisch zu engagieren oder eben nicht… Und auch Dinge, die unter die Erziehungspflicht fallen, wie Krankheit oder besondere/altersgerechte Bedürfnisse bei Kindern:

„Wieso hast du dich schubsen lassen- von einem Fünftklässler?! Jetzt habe ich noch mehr Arbeit! “ – Meine Mutter, als ich im Gedränge des Pausengongs auf der großen Schultreppe hinfiel, mir einen Bänderanriss zuzog und im Krankenhaus gegipst werden musste.

Für den Sündenbock bedeutet dies einen massiven Einschnitt in sein Selbstbewusstsein. Ohne die Rolle ablegen zu können, fehlt es an einem sicheren Umfeld, an der Perspektive einer gesunden Entwicklug und an Selbstsicherheit. Durch die dysfunktionale Rollenübernahme kommt es zu Gefühlen tiefer Einsamkeit innerhalb der Familie, denn das, was von Außen auf den Sündenbock geschoben wird, nimmt dieser irgendwann als wahr in sich auf.

Er fragt sich, ob er die Behandlung vielleicht verdient hat, und da er keine anderen Antworten erhält, schreibt er sich die Rolleneigenschaften als Charaktereigenschaften zu. Das Familiensystem bestärkt ihn darin, indem es mit Scham und Vorwürfen arbeitet, wenn er versucht, aus seiner Rolle auszusteigen, sich weiterzuentwickeln oder Hilfe von Außen zu erhalten.

Was hat es Gutes, Sündenbock zu sein?

An dieser Stelle lässt sich fragen, ob es auch Vorteile geben kann, in einem solchen Rahmen aufzuwachsen. Da ich ein großer Fan des Reframing bin und aus eigener Erfahrung fest an die Entwicklung und Befreiung der Einzelnen glaube, sage ich ja.

  1. Vorteil: Bewusstwerdung. Langfristig setzt sich die Person, die die Sündebockrolle hat, mit der Familiendynamik auseinander und kommt so den Themen hinter der Ausgrenzung nahe. Das, was hinter den Schuldzuweisungen steckt (etwa Alkoholmissbrauch, Überforderung in der Elternschaft, Narzissmus, Gewalt in engen sozialen Beziehungen und andere Tabuthemen), kommt so, zumindest für die betroffene Perosn, ans Lich tund kann stellvertretend für das System bearbeitet werden. Der Sündenbockrolle ist also ein Befreiungsfenster mitgegeben, aus dem er aussteigen kann, sobald genug Kraft vorhanden ist, sich vom rollengebenden System zu distanzieren.
  2. Vorteil: Entwicklung des Selbst. Ein weiterer Punkt ist die innere Stärke, die unweigerlich mit der Rolle entwickelt wird. Natürlich geht die Person durch viele emotionale Tiefen, erlebt Ausgrenzung, offene und versteckte Anfeindung, ein konstantes Abwerten ihrer Realität und ein Verhindern ihrer Pläne und Träume. Eben dadurch übt sie aber auch, wie Hindernisse umgangen werden können, welche tiefen inneren Ressourcen sie finden kann, wem zu vertrauen ist und wie das eigene Überleben gesichert werden kann, wenn auf die Kernfamilie kein Verlass ist.

Gibt es eine Heilung im System?

Wahrscheinlich nicht. Schön wäre es natürlich, wenn die mit der Sündebock betraute Rolle ihrgendwann aus ihrem Anzug schlüpfen könnte, wenn Frieden im System herrschen und ein offener Austausch über die Misslage und den emotionalen Missbrauch gelingen könnte.

Leider ist das eher realitätsfern, denn: Die Menschen im System, die davon profitiert haben, dass Sündenböcke alles auf sich nahmen, müssten sich eingestehen, was sie vorher nicht eingestehen wollten.

  • Was haben sie dazu beigetragen, dass es diesem Menschen so schlecht ging?
  • Wie haben sie die Person behandelt?
  • Was haben sie dazu beigetragen, dass es an positiver Zeit fehlte oder was an Verletzungen (seelisch/körperlich) zugefügt wurde?

Da die Enabler (dt.: Ermöglicher) vielfach von der Übernahme der Probleme durch den Sündenbock profitiert haben und an der Ausbeutung teilhatten, ist es kaum wahrscheinlich, dass sie diese Vorteile zurücknehmen und ihrerseits um Vergebung bitten. Vielmehr werden sie versuchen, durch weitere Akte der Beschämung und der Triangulation (Einbindung von Dritten um Macht auszüben) das System zu erhalten:

„Was, du übernimmst nicht mehr den Einkauf für Oma? Sie hat dich immer unterstützt- wie kannst du ihr das antun!? Machst du jetzt überhaupt nichts mehr?“ – Mein Bruder, als ich (Alleinerziehend, zwei Kinder, Vollzeitberufstätig) um Hilfe bei der Pflege bat.

Die emotionale Verletzung kann nicht dort heilen, wo sie entstanden ist. Es bräuchte zur Auflösung im System noch weitere Voraussetzungen, etwa die Einsicht eines Enablers (manchmal ausgelöst durch einen Schicksalsschlag).

Die Folgen fürs System

Dort, wo es gelingt, heilt ein ganzes System. Dort, wo das Kernsystem auf der Weiterführung der Rollen besteht, kommt es früher oder später zu einer der beiden Verhaltensweisen:

Entweder behält der Sündenbock seine Rolle und sieht sich als Opfer, gibt jegliche Handlungsmöglichkeit in seinem Alltag ab und macht sich klein und unscheinbar- damit sichert er/sie sich unbewusst die Aufmerksamkeit des Systems und wird zumindest in der Funktion als Sündebock anerkannt. Dieses Verhalten kann jahrelang das Überleben im System sichern, wenn keine eigenen Mittel vorhanden sind, um auszusteigen.

Oder die Person erstarkt, erhält einen klaren Blick durch Dritte (Therapie, positive Bezugspersonen außerhalb) auf das Thema, findet Zugang zu Ressourcen und kann sich befreien. Letzteres ist mit einem Ausscheiden aus und oft mit einem Kontaktabbruch zum System verbunden, da sich die neu gewonnene Einsicht des vorherigen Sündenbocks nun nicht mehr mit den Anforderungen des Systems deckt.

Was kannst du als Sündenbock tun?

Wenn du denkst, dass du vielleicht auch in deinem Bezugssystem als Sündenbock herhälst, überlege, wo es sich zeigt und wie: Wirst du abgewertet? Kannst du Argumente vorbringen oder werden sie gar nicht angehört? Wirst du in Pläne eingeweiht, die alle betreffen? Wird dir eine bestimmte Identität übergestülpt? Bekommst du wenig oder gar keinen Zuspruch, “egal, was du machst”? Hast du Angst, dich zu „zeigen“?

Gut, dass du das alles bemerkst. Jetzt ist es ratsam, dir Unterstützung zu suchen. Eine systemische Beratung kann dir helfen, dich mit deiner Rolle, deinen Ressourcen und deinen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Du darfst dich für dich selbst neu sortieren.

Du darfst die Rolle, die dir ungefragt zuteil wurde, ablegen.

Überlege, wie du mit guter Unterstützung in Ruhe deinen Ausstieg planen kannst (Schuldnerberatungsstellen, Familienberatungsstellen, anonyme Onlineberatung), so dass du sicher auf eigenen Füßen stehen kannst, wenn du soweit bist. Auch eine Therapie, in der du Erlebtes aufarbeiten kannst, kann hilfreich sein.

Achtung: Sieh bei der Wahl deiner Unterstützer:innen genau hin. Wer dich damit beschwichtigen will, einfach “inneren Frieden” mit allen zu schließen oder „darüber hinweg zu sehen“, trägt weiter zum emotionalen Missbrauch bei. Es mag sein, dass du irgendwann eigene Anteile überdenken musst. Am Anfang deines Weges sollte aber das Schaffen eines sicheren Raumes stehen, in dem du ernst genommen wirst und dir Gehör/Glauben geschenkt wird.

Nimm dir Zeit, dich zu sortieren. Beobachte. Führe Tagebuch. Informiere dich über narzisstische Familiensysteme und die dahinter liegenden Muster. Und dann: Erinnere dich, wer du bist. Du bist es wert, deine eigene Identität zu verwirklichen, fern ab der Gedankenkonstrukte von Anderen. Du alleine entscheidest, wer du bist. Das kann dir NIEMAND nehmen.