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Helfersysndrom, Widerstand und jede Menge Selbstkritik

Als ich vor einigen Tagen schrieb, ich wolle mich mehr dem Bloggen widmen, ahnte ich schon, was kommen könnte: Die tiefe Sehnsucht nach Verwirklichung birgt immer die Gefahr eines Helfersyndroms, für mich und für Andere.

Helfersyndrom?!

Ja, in der dialogischen Arbeit lauert schon die Gefahr der Übergriffigkeit- dessen bin ich mir voll bewusst. In dieser Woche hat es mich daher auch nicht sonderlich überrascht, dass genau dieses Symptom sich mehrfach gezeigt hat. So deutlich, dass es sich einen Platz hier im Blog verdient hat.

Willkommen, liebes Helfersyndrom, nimm Platz und trink einen Tee. Lass uns mal schauen, was du mir so mitgebracht hast.

Die beraterische Arbeit bringt es mit sich, dass tiefe und emotionale Inhalte geteilt werden. Die des Gegenübers, und meine eigene Haltung auch. Gespräche über die Vergangenheit, über das eigene Befinden, über Pläne und Ziele sind Teil eines jeden Gesprächs.

Immer schwingt auch die Frage mit: Wo soll es für dich hingehen? Was ist der nächste Schritt?

Oft genug wird diese Frage ausgesprochen, und dann liegt oder steht sie mitten im Raum, lehnt sich unbequem an das Mobiliar an und sagt:

Uh, hier ist es aber ungastlich. Es ist ja noch gar nichts fertig hier- ich will wieder weg.

Meist erlebe ich dann, dass diese kritische und gefährliche Frage nach dem Ziel eine Spannung mit sich bringt, die sich auf meine Gesprächspartner:innen niederschlägt.

Sie werden mutlos, fühlen sich überfordert und merken, dass sie noch “so viel Arbeit” vor sich haben. Oft zeigen sich auch Dinge, die sie vielleicht lieber noch nicht angeschaut hätten.

Der Bruch zwischen dem jetztigen Standpunkt und der Wunschwirklichkeit scheint unüberwindbar, die Reise zu beschwerlich und überhaupt- viel zu viel.

An dieser Stelle brechen dann viele Gefühle auf: Die Aussicht darauf, die eigene Situation anschauen zu müssen, macht weder Spaß, noch werden wir häufig gesellschaftlich dazu ermutigt. Solange wir “funktionieren” fragt doch oft niemand nach den Unbequemlichkeiten unserer Seele. Und Schatten aus dem Keller holen? Eher unattraktiv.

Aus meiner Erfahrung heraus meldet sich dann an dieser Stelle bei mir das liebe Helfersyndrom:

Nach dem Motto “wenn ich es geschafft habe, kannst du es auch schaffen” springt es ins Rampenlicht, holt alle meine Erfolge hervor, verkürzt die Erfahrung um den Faktor Zeit und malt ein völlig unrealistisches Bild davon, was mein Gegenüber auch “schaffen kann”.

Das geht so schnell und nimmt eine solche Fahrt auf, dass ich es kaum selbst mitkomme. Geschweige denn mein gebeuteltes Gegenüber, der oder die dann atemlos zuhört, was in den nächsten Wochen so ansteht oder mit welchen immensen Entwicklungsschüben die ganze Geschichte verbunden sein soll.

Während ich noch in den höchsten Tönen Utopien ausmale, klinkt sich meine Gesprächspartnerin schon aus. Gesunde Reaktion an dieser Stelle: Tränen, Ernüchterung, Rückzug.

Hallo Widerstand, schön, dass du dich zu uns gesellst, bitte fang mal das Helfersyndrompferdchen wieder ein.

Was genau ist da passiert? Wie komme ich überhaupt dazu, mich als erhabene Retterin aufzuschwingen und genau darin den Kontakt zum Anderen zu verlieren? Und was heißt das überhaupt- „es schaffen“? Was genau ist mit „es“ gemeint? “Da abholen wo jemand steht” bedeutet nicht, jemanden mitzureissen, zwanghaft zu befreien und ihn/sie zu entwurzeln und Druck auszuüben. Schon gar nicht über die völlig unangemessene Methode des VERGLEICHS.

Die Frage, wie ich als “Profi” dazu komme, meine eigene Geschwindigkeit und meinen eigenen Prozess als Maßstab anzusetzen an eine andere Person, ist so alt wie die Frage nach Hilfe und Kontrolle.

Ich persönlich habe in dieser Woche gelernt, dass mich mein Überschwang häufig dann befällt, wenn sich meine Rollen vermischen. Eine Runde Selbstreflexion kann hier den Schaden begrenzen, zumindest für die Zukunft.

Die Beraterin Melanie legt ein andere Tempo vor als die Private Melanie, und manchmal kommen sich beide in die Quere. Besonders oft passiert das bei Themen, die mir ans Herz gehen. Aus meiner eigenen Biografie heraus schöpfe ich so viel Wissen und Hoffnung, dass es mir manchmal nicht schnell genug gelingt, diese Hoffnung (im Sinne der Anderen) erst einmal im stillen Kämmerlein zu lassen.

Die Private Melanie springt dann in die Szene und ruft: Mir nach! Ich weiß wie es gehen kann! Und dann stürmt und rennt sie vorweg und zeigt auf dies und das, was ihr geholfen hat und was sich für sie als nützlich erwiesen hat… Und dabei verliert sie den Blick auf die Person, der sie eigentlich beistehen wollte.

Wer bin ich also, wenn ich Prozesse begleite? Bin ich die Privatperson oder die Beraterin, und sind beide voneinander zu trennen? Da immer wieder hinzusehen und klar zu sein, ist eine Daueraufgabe.

Ich merke, dass es mir manchmal noch schwer fällt, einerseits im eigenen Prozess zu sein und andererseits aus der Rolle der Erfahrung heraus zu sprechen. Eben nur ausgewählte Beispiele und Möglichkeiten aufzuzeigen, die vielleicht stellvertretend Hoffnung geben könnten.

Da die menschliche Entwicklung nun mal universell und gleichzeitig einzigartig ist, ist es so schwer, den passenden Stoppunkt zu finden. Wo kann ich als Beispiel dienen, und wo halte ich einfach mal den Mund?

Natürlich wählt das Gegenüber aus, was passt. Ich muss mich hinten anstellen und wirken lassen, aushalten, in seinem Tempo mitgehen, um wirklich eine nützliche Begleitperson zu sein. Und in dieser Woche habe ich gemerkt, dass mir das umso schwerer fällt, je mehr Liebe ich für die Menschen in meinem Leben empfinde und je mehr Verständnis ich für ihre Lage mitbringe.

Denn sind wir einander nicht Spiegel, die uns zeigen, wo wir stehen? Lerne ich nicht aus jeder Begegnung eben so viel wie die andere Person? Natürlich, aber die Verantwortung für meine eigenes Spiegelbild trage ich immer selbst.

Diese Erkenntnis macht mir persönlich Mut, weiterzugehen. Helfersysndrom und Widerstand sind dabei Gäste, die sich gerne einbringen dürfen. Wer sich zeigt, wird gehört. Und einen Platz am Tisch und Tee gibt es auch immer, auch wenn es beim Entwickeln knirscht.