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Die Angst vor der Freiheit

Hast du dich schon einmal gefragt, warum du nach endloser Zeit des an-dir-arbeitens immer noch an einem Platz steckst, der dir nicht guttut? Möglicherweise liegt es daran, dass du eine unbewusste Angst hast, die dir angeborene Freiheit zu nutzen. In diesem Artikel beschreibe ich, wie ich mit dieser Angst umgehe.

Es war im Seminar zur pädagogischen Anthropologie während meines Studiums. Der Professor hatte mit der Erwähnung des Thomas-Theorems die These aufgeworfen, dass der Mensch sich immer aus seiner ihm eigenen Wahrheit heraus entscheiden könnte. Und dass dieses Immer jederzeit, zu allen Gegebenheiten und unter jeder Voraussetzung, gelten würde.

Ich, damals frisch getrennt und mit einer Vielzahl von Folgen nicht ganz gelungener Entscheidungen kämpfend, fühlte Wut und Ohnmacht aufwallen, als ich das hörte.

Immer frei sein, warf ich erzürnt ein, das kann nicht sein- und ich dachte dabei an die Zwänge, die sich mir selbst darstellten, sobald ich den geschützten Raum des Seminars verlassen würde.

Denn bereits mit dem Verlassen des Raumes würde ich wie jeden Nachmittag von der Studentin zur alleinerziehenden Mutter mutieren, die pünktlich den Bus kriegen, dann die Kinder in der Kita abholen und dann nach Hause eilen müsste, um Haushalt, Einkauf und Erziehung zu meistern, bis es spätabends noch einmal an die Bücher ging.

Von Freiheit keine Spur- und überhaupt spielten moralische Aspekte doch auch noch eine Rolle, sonst wären wir ja alle ungesteuerte Tiere ohne Vernunft.

Mit mir im Seminar saß ein junger Mann, der mich amüsiert darauf hinwies, dass Freiheit eben doch eine angeborene Konstante des Menschen sei- Mensch wisse sie nur nicht immer zu nutzen, und überhaupt sei die Gewohnheit und der Komfort der Preis für die geistige Vernebelung, wenn es um den Begriff gehe.

Wir debattierten die gesamte Stunde lang, bis er einen entscheidenden Satz sagte, der mich entwaffnete:

Dein Mann hat sich doch auch für seine Freiheit entschieden.

Und mit einem Mal wusste ich, dass es stimmte.

Das, was ich als Hinderungsgrund für die Freiheit angesehen hatte, nämlich einen moralischen Aspekt (oder den Aspekt der Abhängigkeit/ Fürsorge von und für andere), war mit dem Hinweis auf den persönlichen Auslegungsspielraum ausgehebelt worden.

Natürlich steht es uns frei, uns zu entscheiden- aber es gibt gute Gründe für oder gegen die Entscheidung zur Freiheit. Diese sollten wir uns bewusst machen. Der Grund, warum die Angst siegt, kann der Wunsch nach Überleben in der jeweiligen Situation sein.

Diese Erkenntnis half mir in den folgenden Jahren immer wieder, in einer für mich unschönen Lage zu überleben. Klar war die Situation, in der ich mich befand, die Folge meiner Entscheidungen:

Niemand hatte mich in die Ehe gezwungen. Die Kinder waren aus Liebe entstanden und gewollt, und ich hatte zu diesem Mann und der Lage klar und deutlich JA gesagt. Allerdings war ich unbewusst von den gleichen Motiven bei ihm wie bei mir ausgegangen, ohne seine Motive zu hinterfragen oder mit ihm darüber zu reden.

Dass seine andere sein mussten, wurde mir spätestens zum Zeitpunkt der Trennung klar, als er sich entschied, für sich FREI zu sein.

Anstatt auch alles hinzuwerfen, wegzulaufen und mich dem Alkohol hinzugeben, habe ich damals einen anderen Weg gewählt:

Mein Ziel war es, den Kindern und mir ein neues Leben aufzubauen, in dem wir unsere Sicherheit und einen stabilen Platz haben. Es ist mir gelungen, denke ich. ABER:

Habe ich mich gefürchtet und wäre am liebsten wieder umgedreht? Ganz sicher! War der Weg nur leicht und voller Blumen am Rande? Äh-nein. Und ich habe einen Preis dafür gezahlt, mehr zu wollen.

Der Preis dafür war, dass ich kurzfristige Freiheiten für langfristige Ziele eingetauscht habe: Lernen, statt abends wegzugehen. Putzen, statt das Studium aufzugeben und voll ALG II zu beziehen. Direkt von den Vorlesungen nach Hause zu gehen und Mutter zu sein, anstatt bei den anderen Studies abzuhängen. Und ich würde es jederzeit wieder tun (mit einigen Änderungen und etwas weniger Druck).

Wenn es heute um Entscheidungen geht, in denen ich meine eigene Komfortzone verlassen muss, erinnere ich mich an diese Momente und weiß, ich kann mich entscheiden.

Ob ich den Beruf wechseln will oder mich in eine Beziehung begebe- ich kann mich entscheiden. Ob ich diese Beziehung wieder verlasse oder nach der Probezeit kündige oder sogar welche Art von Ernährung ich mir gönnen will- das alles ist meine freie Entscheidung innerhalb meiner Maßstäbe und den Möglichkeiten, die ich für mich wahrnehme.

Allerdings, und das weiß ich heute, kommt diese Freiheit oft in Gestalt von Angst daher: Angst vor der falschen Entscheidung. Sorge, sein angestammtes Umfeld zu verlieren. Unwohlsein, sich etwas zu erlauben, was zu viel für uns sein könnte, oder sich unter Wert zu verkaufen. Scham, vor anderen zu sprechen und sich zu zeigen, wie man ist (und nicht, wie du sein willst). Angst, die Entscheidung nie mehr Rückgängig machen zu können. Angst vor den Folgen, womöglich lebenslang.

Angst, Angst, Angst. Wir verwechseln Angst mit Freiheit und werden dann wie gelähmt, weil wir nicht wissen, was zu tun ist.

Es kommt mir so vor, als sei die Angst die Vorderseite der Medaille, und die wahre Freiheit die Rückseite, der kleine ungeliebte Bruder des Medienstars, der immer im Schatten verweilt, weil es da schön sicher ist. Angst verhindert, dass wir uns frei machen, nicht zuletzt von ihr, der Angst.

Und so kommt es, dass wir uns allerlei Regeln erschaffen, um auch ja nicht auf den Geschmack zu kommen, wie gut sich Freiheit anfühlt. Das geht, das nicht. Das macht man so, das nicht.

Ich kenne den Sog, den das gesamtgesellschaftliche Angstgerüst gerne auf uns ausübt. Es hat mich in Form von Rollenerwartungen und Körperidealen oft im Griff gehabt. Auch heute bemerke ich immer noch, wie ich mich frage, ob es OKAY ist, was ich gerade mache (schreiben, mich meiner Körperlichkeit stellen, meine Seele erforschen, bedingungslos lieben lernen).

Also was ist zu tun? Wie können wir uns der Angst stellen?

  1. Persönlich finde ich es gut, wenn wir sie zuerst einmal wahrnehmen. Ihr einen Raum geben. Sie willkommen heissen als Teil von uns, den wir irgendwann einmal entwickelt haben. Als Bewältigungsstrategie sozusagen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und evolutionstechnisch war es immer ganz gut, wenn man Teil des Systems war, um zu überleben. Allerdings haben wir uns das Angepasstsein zur zweiten Natur gemacht, so dass unser Menschsein, die kreative und leicht wahnsinnige Komponente, zu ersticken droht.
  2. Kleine Räume schaffen, in denen die Angst nicht gewinnt, das könnte ein zweiter Schritt nach dem Beobachten sein. Wo erlaube ich mir heut schon, anders zu sein? Wo erinnere ich mich, wer ich bin? Was mag ich, was mag ich nicht? Wenn alle Spargel toll finden, muss ich dann mitessen? Oder darf ich freundlich ablehnen und sagen- für mich nicht, danke?
  3. Wenn das geschafft ist, können wir uns umsehen nach Gleichgesinnten. Es gibt sie, und sie sind gar nicht so versteckt, wie man meinen könnte. Dort die Mutter, die sich nach der Trennung ein eigenes Unternehmen aufgebaut hat. Da der junge Mann, der sich traut, zu seinen Gefühlen zu stehen. Und hier ein Menschenkind, das sich fern ab der binären Zuordnung ganz in sich zuhause fühlt. Das sind unsere Vorbilder. Sie sind den Weg schon ein Stückchen gegangen, und wir dürfen folgen, also uns auch auf unseren Weg machen.

Sobald wir den ersten Schritt hin in unser eigenes Erkennen gehen, sind wir auf dem Weg zur Freiheit.

Klar, die Angst jammert und fleht und will heim ins warme Bett. Aber das kennen wir doch schon, oder? Zurück könnten wir also immer gehen.

Wäre es nicht viel spannender, wenn wir uns einmal auf die Reise einlassen würden? Wenn wir uns trauen würden, winzige unsichere Schritte hin in eine Richtung zu machen, in der wir noch nie waren, und die Generationen vor uns auch nicht?

Wir dürfen uns Gefährten suchen (hallo, Frodo!), und dann kommen wir auch mit dem Drachen klar. Das finde ich persönlich den besten Ansatz, um die Angst vor der Freiheit minischrittweise zu verlieren.

Und das beste daran ist: Auf dem Weg, mit der Angst im Gepäck, merken wir auf einmal, wie schön wir sind. Wie stark. Wie liebenswert. Und längst, im Herzen, frei.